Symptome der Wachstumsabhängigkeit

Der Übergang zur Nachhaltigkeit erfordert, dass wir unsere sucht-ähnliche Abhängigkeit vom Wirtschaftswachstum erkennen und überwinden. Hier ist eine Liste der Symptome.

Die wichtigste Erkenntnis der ökologischen Wirtschaftsforschung besteht möglicherweise gar nicht darin, dass es klare ökologische und soziale Grenzen des Wachstums gibt (wie im letzten Beitrag besprochen), sondern dass unser System süchtig nach Wachstum ist. Mehrere Autor*innen haben die Analogie der Sucht verwendet, um unsere Fixierung auf Wachstum um jeden Preis zu beschreiben [1, 2]. Ich will zunächst klarstellen, dass Abhängigkeiten in all ihren verschiedenen Formen nichts sind, wofür man sich schämen muss, und das ist kein moralisierender Blogbeitrag. Wir stigmatisieren und individualisieren Sucht und damit verbundene Gesundheitsprobleme und isolieren die Betroffenen. Es gib einen starken Mythos, dass Sucht ein Nischenphänomen ist, wogegen Abhängigkeiten sehr weit verbreitet sind und sich nicht nur auf Drogen oder Glücksspiel beschränken: Wenn Arbeit eine Sucht ist, sind wir zum Beispiel beeindruckt und bewundern Menschen als wahre „Workaholics“ [3].

Um die Analogie der Wachstumabhängigkeit zu erkunden, habe ich Folgendes gemacht: Ich habe Listen von Symptomen von Substanzabhängigkeiten durchstöbert und dabei Wörter im Zusammenhang mit der Sucht durch Wörter im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Hamsterrad ersetzt: Wirtschaftswachstum, Konsum, Einkommen, Arbeit, Stress und Fürsorge. Die ursprüngliche Liste der Symptome findet man hier [4]. Beim Lesen dieser muss man sich vorstellen, dass sie von verschiedenen Rollen gesagt werden (oder intern gefühlt werden): als Politiker*in, als CEO oder als Bürger*in. Schau selbst, welche Symptome Du beobachten kannst und welche nich:

WACHSTUMSSUCHT-Symptome oder Verhaltensweisen sind unter anderem:

  • Das Gefühl, dass WIR regelmäßig KONSUMIEREN müssen – täglich oder sogar mehrmals am Tag 
  • Intensive Verlangen nach WIRTSCHAFTLICHEM WACHSTUM, die alle anderen Gedanken blockieren 
  • Mit der Zeit mehr EINKOMMEN benötigen, um den gleichen Effekt zu erzielen 
  • Längere ARBEITSZEIT über einen längeren Zeitraum als WIR beabsichtigt hatten
  • Sicherstellen, dass WIR einen Vorrat an KONSUM haben 
  • Geld für KONSUM ausgeben, obwohl wir es uns nicht leisten können 
  • Verpflichtungen und FÜRSORGE-Verantwortlichkeiten nicht erfüllen oder soziale oder Freizeitaktivitäten wegen ARBEIT einschränken 
  • Weiterhin WIRTSCHAFTLICH WACHSEN, obwohl WIR wissen, dass es Probleme in UNSEREN GESELLSCHAFTEN verursacht oder UNS körperlichen oder psychischen Schaden zufügt 
  • Dinge tun, um DAS WIRTSCHAFTSWACHSTUM voranzutreiben, die WIR normalerweise nicht tun würden, wie stehlen 
  • KONSUMIEREN oder andere Aktivitäten ausüben, wenn man gestresst ist 
  • Eine beträchtliche Zeit damit verbringen, EINKOMMEN zu erhalten, zu KONSUMIEREN oder sich von ARBEIT zu erholen 
  • Versagen bei Versuchen, den KONSUM zu stoppen 
  • Entzugssymptome erleben, wenn man versucht, das WIRTSCHAFTSWACHSTUM zu stoppen 

Die Analogie hilft mir (mit einem Augenzwinkern) zu zeigen, wie sehr wir auch im Lichte katastrophaler Konsequenzen weiterhin nach Gewohnheit handeln. Sie spricht aber auch eine Erfahrung an, die viele Menschen in der aktuellen Wirtschaftsweise haben: Wir haben ständig keine Zeit und keine Kapazität, uns um das zu kümmern, was wir eigentlich wichtig finden, und fühlen uns in einem Hamsterrad gefangen. Unser Wirtschaftssystem wird buchstäblich Teil unserer inneren Psyche und schafft „mentale Infrastrukturen“ die auf Wachstum ausgerichtet sind [5], wenn unsere Kultur uns zum Beispiel lehrt, dass wir unsere Optionen, Aktivitäten und Kapital ständig erweitern müssen, um wertvoll zu sein. Das bedeutet auch, dass wir in einer Wirtschaftsweise gefangen sind, in der soziale Teilhabe immer an steigendes Einkommen geknüpft ist und wir den Druck verspüren, unsere Position zu verteidigen [6]. So wie Sucht kein individuelles Problem ist, so ist auch unsere untragbare Wachstumsökonomie kein individuelles Problem. Was das Suchtbild nicht vermittelt: Die Vorteile des Wachstums werden nicht gleichmäßig geteilt, und soziale Ungleichheit ist ein Haupttreiber dieses Teufelskreises. Wenn wir uns dessen bewusst werden, dass wir kollektiv abhängig von Wachstum sind, wird deutlich, dass wir eine drastische Transformation von Arbeits-, Versorgungs- und Verteilungsstrukturen brauchen, um unseren Weg zu nachhaltigem Wohlbefinden frei zu machen. Wie bei der Heilung von Sucht bedeutet Degrowth, das Wachstum mit einem geplanten, fürsorglichen und kollektiven Ansatz zu entziehen, anstatt durch einen abrupten Entzug (“by desaster”), was marginalisierte Menschen immer am stärksten betrifft.

[1] https://yorkspace.library.yorku.ca/items/e05d0bc4-8723-46f3-ad38-be58edef71cc 

[2] https://degrowth.info/en/library/our-addiction-to-economic-growth-is-killing-us 

[3] https://www.healthline.com/health/addiction/work#diagnosis 

[4] https://www.mayoclinic.org/diseases-conditions/drug-addiction/symptoms-causes/syc-20365112 

[5] https://www.boell.de/sites/default/files/endf_mental_infrastructures.pdf 

[6] Dean curran (2017). The Treadmill of Production and the Positional Economy of Consumption. Canadian Review of Sociology. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/cars.12137#cars12137-note-0012_67

Bildrechte: Frederick Marschall auf Unsplash

Autor: Sven-David Pfau, Wirtschaftsuniversität Wien 

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