Die Volkswirtschaftslehre (VWL) ist eine der elitärsten akademischen Disziplinen und begünstigt dadurch die Interessen der privilegierten Klassen.
Einige sind inzwischen mit den Begriffen Sexismus, Rassismus oder Ableismus vertraut. Unterdrückte Gruppen haben viel Arbeit geleistet, um ihre strukturelle Benachteiligung endlich auf den Tisch zu bringen. Der Begriff Klassismus scheint mir dabei noch relativ unbekannt zu sein und war für mich und meine Erfahrungen im Volkswirtschaftsstudium augenöffnend. In fünf Jahren VWL Studium habe ich das Wort Klassismus oder Klasse nicht einmal gehört. Das ist bemerkenswert, aber nicht überraschend, wie wir später sehen werden. Hier möchte ich einige Denkanstöße geben, was Klassismus bedeutet und wie er in der VWL präsent ist. Sozialwissenschaftler*in Francis Seeck definiert Klassismus wie folgt [1]:
“Klassismus beschreibt die Diskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft und Position. Klassismus richtet sich gegen Menschen aus der Armuts- oder Arbeiter:innenklasse, zum Beispiel einkommensarme, erwerbslose und wohnungslose Menschen. Klassismus hat Auswirkungen auf die Lebenserwartung und begrenzt den Zugang zu Wohnraum, Bildungsabschlüssen, Gesundheitsversorgung, Macht, Netzwerken, Teilhabe, Anerkennung und Geld.”
Der Begriff der „Arbeiterklasse“ ruft oft das sehr begrenzte Bild des weißen männlichen Fabrikarbeiters hervor, umfasst jedoch sehr viel mehr Personengruppen: Bäuerinnen und Bauern, Plantagenarbeiter*innen, Pflegekräfte, scheinselbstständige Lieferdienstarbeitende, Call-Center-Mitarbeitende ebenso wie Arbeitslose. Sie alle sind auf verschiedene Weise im Klassensystem benachteiligt. Klassismus bedeutet den Aufbau und die Rechtfertigung einer Wirtschaftsstruktur, die ausbeutet, entmenschlicht und abwertet. Das Konzept Klasse ist komplex, weil es nicht nur um wirtschaftliche Ressourcen geht und Menschen möglicherweise nicht in allen Formen gleich privilegiert oder benachteiligt sind: Es geht auch um kulturelles und soziales Kapital, was Bildung, Berufstyp, Verhaltenswissen und wertvolle soziale Netzwerke bedeutet. Was sie gemeinsam haben: ALL diese Dinge werden über Generationen hinweg geerbt und sozusagen angehäuft und somit ist die Klassenzugehörigkeit keineswegs zufällig. Entgegen der Behauptung der „Aufstiegsmobilität“ werden Klassenpositionen hauptsächlich vererbt. Um die Wirkung von Klassismus greifbarer zu machen, habe ich eine absolut unvollständige Liste geschrieben, wie sich Klassismus zeigen kann:
Klassismus ist, wenn Menschen einen Job brauchen, um zu überleben, während andere von Kapital- und Mieteinnahmen leben können.
Klassismus ist, wenn Medien arbeitslose Menschen als faul darstellen.
Klassismus ist, wenn reiche Menschen sich als umweltfreundlich darstellen können und den Konsum von „den Massen“ als Hauptursache für die Klimakrise verurteilen, obwohl reiche Teile der Gesellschaft den Großteil der Emissionen verursachen.
Klassismus ist, wenn die Lebenserwartung zwischen Haushalten mit niedrigem und hohem Einkommen in der gleichen Stadt um 10 Jahre oder mehr variiert (Klassismus tötet).
Klassismus ist, wenn ein Arbeiter*innenkinder drei Mal weniger wahrscheinlich ein Universitätsstudium beginnen, verglichen mit akademischen Kindern.
Klassismus ist, wenn Menschen aus der Arbeiter*innenklasse in Parlamenten unterrepräsentiert sind oder aufgrund fehlender Staatsbürgerschaft nicht einmal wählen können.
Klassismus ist, wenn das reichste Prozent einer Gesellschaft so viel besitzt wie die ärmsten 50 Prozent.
Klassismus ist, wenn Altersarmut mit „schlechter finanzieller Bildung“ erklärt wird.
Klassismus ist, wenn Sie Wohnungen in einer Stadt besitzen, während andere immer länger arbeiten müssen, nur um mit explodierenden Mietpreisen Schritt zu halten.
Klassismus ist die Behauptung, dass die beste Altersvorsorge für alle „in privates Eigentum investieren und Immobilien kaufen“ ist.
Klassismus ist, wenn Ihre Sprache, Ihre Vorlieben und Präferenzen von sozial privilegierten Menschen verspottet werden.
Klassismus ist, wenn Studierende aus der Arbeiter*innenklasse in der Wissenschaft ständig an ihren Kompetenzen zweifeln.
Klassismus ist, als Klassenprivilegierte Person sich und anderen zu verbergen, wie sehr der „Erfolg“ tatsächlich von geerbtem wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Kapital abhängt.
Klassismus ist, wenn die VWL lehrt, dass die Gesellschaft eine Ansammlung von Einzelpersonen ist, die entsprechend ihrer Leistung verdienen.
Bleiben wir bei diesem letzten Punkt, weil es ein Beispiel dafür ist, wie tief der Klassismus in den Wirtschaftswissenschaften verankert ist. Die aufgelisteten Ungleichheiten sind erheblich und müssen immer wieder durch eine klassistische Ideologie gerechtfertigt und normalisiert werden, in dem wir (auf viele Arten) eine wesentliche Kernbotschaft zu hören bekommen: Es ist deine eigene Schuld, wenn du nicht genug bekommst, und es ist nun mal so, dass einige Menschen mehr erhalten als andere, weil sie härter gearbeitet haben und das, was sie tun, wertvoller ist. Klassismus funktioniert, indem er die Verantwortung individualisiert und somit Scham und Isolation bei den Betroffenen erzeugt. Die Mainstream-VWL bietet das perfekte Modell für diese Geschichte, wenn sie annimmt, dass die Wirtschaft aus rationalen Individuen besteht, die freiwillig entscheiden, ob sie arbeiten oder nicht, und durch ihre „marginale Produktivität“ (d.h. Leistung) belohnt werden. In dieser Weltsicht (genannt „methodologischer Individualismus“) gibt es keine Klassen und folglich keine Machtunterschiede zwischen ihnen, nur Einzelpersonen. Auf diese Weise ist die Mainstream-Ökonomie von Anfang an zugunsten der (real existierenden) herrschenden Klassen voreingenommen und reproduziert Klassismus im Mantel scheinbarer Neutralität. Dass sich das nicht ändert, hängt auch davon ab, wer VWL studiert und in diesem Bereich später weiter forscht, lehrt oder anderweitig arbeitet: Eine kürzlich durchgeführte Studie zeigt das Muster in den USA und stellt fest, dass die VWL ein „sozioökonomisches Diversitätsproblem“ hat [2]. Die Daten (siehe Abbildungen unten) zeigen auf der horizontalen Achse den Anteil von Doktorand*innen mit nicht-akademischen Hintergrund in verschiedenen Disziplinen. In der VWL (engl. Economics) sind Doktorand*innen mit Arbeiterklasse-Hintergrund noch stärker unterrepräsentiert sind als in anderen Disziplinen. Interessanterweise schneidet die VWL auch bei Sexismus (Vertikale Achse obere Abbildung) und Rassismus (Vertikale Achse untere Abbildung) im Vergleich zu anderen Fächern sehr schlecht ab.
Wenn man sich einmal der Existenz von Klassen bewusst wird, kann man sehr gut sehen, wie in der Wissenschaft (und im gesamten Bildungssystem) Kinder aus der Mittel- und Oberklasse das Universitätsleben viel leichter navigieren und für sich beanspruchen können, unterstützt von einem stattlichen Rucksack wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Ressourcen (was nicht heißt, dass es notwendigerweise einfach ist, die akademische Welt ist aus vielen Gründen belastend und ungerecht, und alle -ismen spielen eine Rolle). Als erste Generation in meiner Familie mit dem Privileg, Zugang zur Universität zu bekommen, hat mich das Wort Klassismus verstehen lassen, dass ich und viele sozial und wirtschaftlich schlechter aufgestellte Studierende hier eigentlich nichts verloren haben. Umso wichtiger zu hören, dass in Großbritannien kürzlich eine Gruppe von Ökonom*innen aus der Arbeiter*innenklasse gegründet wurde, die sich gegen diese strukturelle Ungleichheit aussprechen und marginalisierten Perspektiven sichtbar machen [3]. Gründer Níall Glynn hat einen aufschlussreichen Beitrag geschrieben und fasst zusammen: „Wir müssen auf die Arbeiter*innenklasse hören, in all ihrer Vielfalt, um eine Ökonomie für die Arbeiter*innenklasse zu haben, bei der sie im Mittelpunkt steht. Und noch wichtiger ist, eine Ökonomie, die von ihnen geschrieben und gesprochen wird.“ (eigene Übersetzung) [4]
[1] Francis Seeck “Über Klassismus: es wäre Gegenrede wichtig, wenn jemand Proll sagt”. In “Der Standard” am 30.08.2022. https://www.derstandard.at/story/2000138648549/francis-seeck-ueber-klassismus-es-waere-gegenrede-wichtig-wenn-jemand
[2] Anna Stansbury, Robert Schultz (2023): The Economics Profession’s Socioeconomic Diversity Problem. Journal of Economic Perspectives Vol. 37 (4). Available here: https://pubs.aeaweb.org/doi/pdfplus/10.1257/jep.37.4.207
[3] Working Class Economists Group (WCEG) https://www.thewceg.org/
[4] Níall Glynn (2023): A broken discipline: Why class matters. https://www.thewceg.org/resource/a-broken-discipline-why-class-matters
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Autor: Sven-David Pfau, Wirtschaftsuniversität Wien
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