Die Sackgasse des Grünen Wachstums

Wenn reiche Länder am Wirtschaftswachstum festhalten, sind sie auf Kurs, ihr Kohlenstoff Budget um das 27-fache zu sprengen.

Ich möchte diesen “Food for thought” Beitrag nutzen, um die neuesten Erkenntnisse für eine der umstrittensten und wichtigsten Debatten in der Nachhaltigkeitsfrage anzuschauen: die Frage, ob es möglich ist, das Wirtschaftswachstum (die wachsende Produktion und der Konsum von Gütern und Dienstleistungen) von seinen klimatischen Auswirkungen zu entkoppeln. Mich interessiert dabei besonders, ob dieses sogenannte “Grüne Wachstum” für die reichen Länder des Globalen Nordens möglich ist, weil sie die Hauptverantwortung für den (bereits stattfindenden) Kollaps des Klimasystems tragen [1]. Warum ist diese Frage so entscheidend? Weil die meisten Versuche, die Klimakrise noch einzugrenzen (sowie die meisten Szenarien des wissenschaftlichen Weltklimarat IPCC), auf der Annahme basieren, dass wir unsere Wirtschaften weltweit weiterhin wachsen lassen können, während wir das Ziel der Begrenzung auf 1,5 Grad Erwärmung erreichen. Einige gehen sogar noch weiter und argumentieren, dass wir sogar auf Wachstum angewiesen sind, um Emissionen zu reduzieren. Kürzlich ging dazu eine Reihe von Grafiken in sozialen Medien viral, die bestätigen sollen, dass starkes Wachstum und Emissionsreduktionen in sechs reichen Volkswirtschaften zusammengehen können [2]. Die scherenartigen Grafiken beschreiben, wie das BIP pro Kopf wächst, während die Emissionen pro Kopf fallen:

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Die Daten sind zunächst eindeutig: Sechs Länder haben ihren Wachstumspfad während des beobachteten Zeitraums von den Emissionen entkoppelt. Aber welche Schlussfolgerung ziehen wir daraus? Ist das Rätsel des grünen Wachstums jetzt endgültig gelöst, sodass wir uns zurücklehnen und die Wirtschaft einfach ihren weiteren Weg zur Dekarbonisierung gehen lassen können? Was hier fehlt, um beurteilen zu können, ob die genannten Länder wirklich auf dem notwendigen grünen Pfad sind, ist ein Messstab (ein endgültiges Emissionsziel und die erforderliche Reduzierungskurve). Hier handelt es sich um ein entscheidendes Missverständnis: Die Frage nach grünem Wachstum betrifft nicht, ob Entkoppelung irgendwo zu irgendeiner Zeit für ein paar Jährchen tattfindet. Vielmehr müssen wir wissen, ob die Entkoppelung in ausreichendem Maße erfolgt und ob wir darauf in den nächsten Jahrzehnten konsequent zählen können, um das vereinbarte 1,5-Grad-Ziel zu erreichen [3]. Ein kürzlich erschienener Artikel von Jefim Vogel und Jason Hickel betrachtet genau diese Frage, und ich möchte die ernüchternden Ergebnisse vorstellen, die das oben gezeigte Bild in einen größeren realistischen Kontext stellen [4].

Die Autoren nahmen die aktuellen Emissionsreduktionspfade dieser sechs und einiger weiterer hoch entwickelter Länder des Globalen Nordens (beginnend ab 2013) und zeigen, dass die erreichte Entkoppelung bei weitem nicht den erforderlichen Reduktionspfaden entspricht. Bei der derzeitigen Geschwindigkeit der Emissionsreduktion (die in der vorherigen Abbildung implizit als erfolgreiches grünes Wachstum gezeigt wird) würden diese Länder 220 Jahre brauchen, um ihre Ziele zu erreichen. Bei dieser Geschwindigkeit wird das Kohlenstoffbudget dieser Länder fast 30 Mal überschritten. Wir müssen also verstehen, dass jedes Prozent Wachstum die nötige schnelle Dekarbonisierung erschwert und die wichtigen Einsparungen durch technologische Fortschritte wieder auffrisst.

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Es gibt mehrere Möglichkeiten, auf diesen Reality Check zu reagieren:
Eine davon ist, das Gerechtigkeitsprinzip abzuschaffen und den reichen Ländern des Globalen Nordens zu erlauben, auf Kosten des Globalen Südens weiterzumachen. Eine andere ist, das 1,5-Grad-Ziel abzuschaffen. Beide Schlussfolgerungen sind unvereinbar mit den Menschenrechten und einer lebenswerten Zukunft. Das kann man machen, dann sollte man es aber auch so sagen und nicht von Fortschritt und grünem Wachstum reden.
Wenn man diese Werte nicht aufgeben möchte, besteht die letzte Zuflucht des grünen Wachstumsglaubens dann darin zu behaupten, dass negative Emissions-Technologien den Kohlenstoff aufsaugen werden, den wir nicht reduzieren “konnten”. Dies ist ein gefährliches Spiel und steht nicht im Einklang mit dem Vorsorgeprinzip bzw Vorsichtsprinzip, da wir nicht wissen, ob die Hochskalierung dieser Technologien jemals funktionieren wird (ganz zu schweigen von anderen sozialen und ökologischen Auswirkungen dieser Technologie zb auf Nahrungsmittelsicherheit). Alle drei dieser Reaktionen, die am grünen Wachstum festhalten, sind letztlich „Diskurse der Klima-Verzögerung“, die uns buchstäblich tiefer in eine Sackgasse führen [5].

Eine andere Option besteht darin, sich zu entscheiden, realitätsgemäß zu handeln: anzuerkennen, dass man seit geraumer Zeit in eine Sackgasse gefahren ist, anhalten, und einen Kurswechsel vornehmen, auch wenn es unbequem ist. Die Sackgasse zu verlassen erfordert aber auch ganz neue Karten, eine grundlegende Neuausrichtung der Produktions-und Lebensweise. Da es hierfür keine einfachen Antworten gibt, wie eine lebenswerte Postwachstumsökonomie aussieht, benötigen wir eigentlich all die Denkpower und Handlungsbereitschaft, die gegenwärtig noch in der Wachstumsillusion gesteckt wird. Ich lasse die Autoren der Studie schließen: „…Hochentwickelte Länder müssen postwachstumsorientierte Nachfragereduktionsstrategien verfolgen und die Wirtschaft in Richtung Suffizienz, Gerechtigkeit und menschliches Wohlbefinden ausrichten, während sie gleichzeitig den technologischen Wandel und Effizienzverbesserungen beschleunigen“ [3, S. 759].

[1] Jason Hickel (2020): Quantifying national responsibility for climate breakdown: an equality-based attribution approach for carbon dioxide emissions in excess of the planetary boundary. In: Lancet Planetary Health. Vol. 4 (9). 

[2] Max Roser,  https://twitter.com/MaxCRoser/status/1454790570593955840

[3] Timothée Parrique et al. (2019): Decoupling debunked – Evidence and arguments against green growth as a sole strategy for sustainability. European Environmental Bureau. https://eeb.org/wp-content/uploads/2019/07/Decoupling-Debunked.pdf 

[4] Jefim Vogel, Jason Hickel (2023): Is green growth happening? An empirical analysis of
achieved versus Paris-compliant CO2–GDP decoupling in high-income countries. In: Lancet Planet Health 2023, 7:e759-69. Available here: https://www.thelancet.com/pdfs/journals/lanplh/PIIS2542-5196(23)00174-2.pdf 

[5] Lamb, WF, Mattioli, G, Levi, S et al. (7 more authors) (2020) Discourses of climate delay. Global Sustainability, 3. e17. https://www.researchgate.net/publication/342596080_Discourses_of_climate_delay 

Bildrechte: Jonathan Farber on Unsplash

Autor: Sven-David Pfau, Wirtschaftsuniversität Wien 

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