Die Alltagsökonomie: Grundlage für unser aller Wohlergehen

Was ist wirtschaftlicher Erfolg? Die Alltagsökonomie ist eine Idee, die uns ermutigt zu hinterfragen, was in unserer Wirtschaft wirklich zählt. 

Kennst du diesen Moment, in dem dir bewusst wird, dass du es vermieden hast, dich um einige wichtige Aufgaben zu kümmern, die eigentlich wichtig im Leben sind: ärztliche Untersuchungen, die Pflege deiner Wohnung oder die Fürsorge für deine Liebsten? Diese Dinge kannst du kurzfristig vernachlässigen, aber irgendwann beginnen sie, sich auf dein Wohlbefinden auszuwirken. Stell dir vor, wir machen dasselbe im großen Stil in unseren Volkswirtschaften: Wir schenken den wesentlichen Aufgaben des Lebens und den Menschen, die sie ausführen, nicht genug Aufmerksamkeit. Denke an Kinderbetreuung, Müllentsorgung oder Lebensmittelversorgung, ohne die wir ernsthafte Probleme hätten.

Um sowohl die Bedeutung als auch die prekären Bedingungen der sogenannten “systemrelevanten Arbeit” in unserer Wirtschaft zu thematisieren, hat eine Gruppe von Sozialwissenschaftler*innen den Begriff der Alltagsökonomie (engl. Foundational Economy) erfunden [1]. Die Alltagsökonomie umfasst die Wirtschaftsbereiche der alltäglichen Bedürfnisse: Energie, Wasser, Wohnen, Internet und Lebensmittelversorgung genauso wie Bildung, Gesundheitswesen und Kinderbetreuung. Der Begriff hinterfragt den Glauben der Marktfundamentalisten, dass wir in einer „einzigen austauschbaren Wirtschaft“ leben, in der Marktpreise allein widerspiegeln und sinnvoll steuern, was wir wertschätzen. Interessanterweise konnten wir während der Corona-Pandemie klar sehen, wie Regierungen weltweit tatsächlich kritische Infrastrukturen und systemrelevante Arbeit gegenüber anderen Teilen der Wirtschaft Vorrang eingeräumt haben, entgegen der Marktlogik. In den momentanen (und sich zuspitzenden) sozialen und ökologischen Krisen wird die Priorisierung der Alltagsökonomie ebenso eine Schlüsselrolle spielen, um eine gerechte und nachhaltige Gesellschaft zu erreichen [2]. Lassen Sie mich drei Gründe dafür nennen.

Erstens weiß jede*r, dass wir den Konsum von Grundgütern und -dienstleistungen wie Lebensmitteln, Energie, Gesundheitsversorgung oder lokalen Mobilitätsdienstleistungen kaum aufschieben können (ohne Schaden anzurichten). Die Alltagsökonomie macht einen großen Teil dessen aus, wofür die Menschen Geld ausgeben, insbesondere in Haushalten mit geringem Einkommen, und die aktuelle Krise der Lebenshaltungskosten spielt sich vor allem in diesen Sektoren ab. Wie wir die grundlegenden Teile unserer Wirtschaft organisieren, beeinflusst also, wie viel Geld wir tatsächlich brauchen, um ein würdevolles Leben führen zu können. Um sicherzustellen, dass jeder in unserer Gesellschaft auf grundlegender Ebene abgesichert ist (bei der gleichzeitig notwendigen drastischen Reduzierung der CO2-Emissionen), müssen wir die Grundversorgung für alle zugänglich machen, indem wir z.B. mehr öffentliches Eigentum schaffen, niedrige Steuern für Grundbedürfnisse einführen oder sogar ein Recht auf universelle Grunddienstleistungen etablieren [3]. Private Unternehmen die in solchen kritischen Sektoren, von denen alle abhängig sind, wirtschaften dürfen, haben ein großes Privileg, das mit sozialen und ökologischen Verantwortlichkeiten einhergehen muss (was von den Begründern des Konzepts als „soziale Lizenzierung“ bezeichnet wird).

Zweitens enthält die Alltagsökonomie das, was Menschen unterschiedlicher Werthaltungen, von Konservativen bis Progressiven, gemeinsam haben: alltägliche Grundbedürfnisse und der Wunsch, dass die nötigen Infrastrukturen gut funktionieren [4]. Dieser Fokus auf geteilte Erfahrung, Bedürfnisse und Räume ist in Zeiten von Krisen, in denen Angst und Polarisierung tendenziell zunehmen, noch wichtiger als sonst und ermöglicht Veränderung anzugehen. Der Ausbau gemeinsamer Infrastrukturen, bezahlbarer Wohnraum, Parks oder öffentliche Verkehrsmittel können den sozialen Zusammenhalt und das Vertrauen in ein funktionierendes Gemeinwesen erhöhen und gleichzeitig Klimaschutz voranbringen. 

Drittens erfordert die Klimakrise eine tiefgreifende Transformation klimaschädlicher Wirtschaftssektoren, was die berechtigte Angst vor weit verbreiteter Arbeitslosigkeit aufwirft. Weil diese mächtigen Sektoren (wie fossilen Großunternehmen) sehr viel Aufmerksamkeit erhalten, unterschätzen wir tendenziell, wie viele Menschen in der Alltagsökonomie arbeiten: diese Wirtschaftsbereiche machen zwischen einem Drittel und der Hälfte aller bezahlten Arbeitsplätze in den meisten Volkswirtschaften aus [5]. Bedenken Sie außerdem den großen Umfang unbezahlter reproduktiver Arbeit (der oft übersehene Teil des Eisbergs, der die bezahlte Wirtschaft am Laufen hält), und Sie stellen fest: Es gibt genug systemrelevante Arbeit, die zu dem oft nicht automatisiert werden kann (ohne Schaden zu verursachen), und die entscheidenden Fragen der Zukunft sind die Bedingungen und die Verteilung dieser Arbeit. Die Pandemie hat den oft unhaltbaren Zustand der wesentlichen Jobs und der Bedingungen für reproduktive Arbeit hervorgehoben: un(ter)bezahlt, überarbeitet und wenig geschützt, wobei migrantische Arbeitskräfte und Frauen am stärksten betroffen sind [siehe 4]. Wir könnten das umkehren, die Alltagsökonomie in den Mittelpunkt stellen und eine versorgende Wirtschaft schaffen. Ich denke, das erfordert auch eine sehr andere Art und Weise, Wirtschaft zu verstehen: „Wirtschaft ist Care” (Fürsorge)[6].

Bildrechte:  Scott Blake auf Unsplash

Quellen: 

[1] https://foundationaleconomy.com/introduction/  und http://alltagsökonomie.at/ 

[2] https://www.opendemocracy.net/en/oureconomy/times-climate-breakdown-how-do-we-value-what-matters/ 

[3] https://hotorcool.org/wp-content/uploads/2023/02/Universal-Basic-Services-Provisioning-for-our-needs-within-a-fair-consumption-space.pdf

[4] https://www.researchgate.net/publication/359719329_Lebensweisen_und_Infrastrukturen_des_Alltaglichen_Lebens_Transformative_Innovationen_fur_eine_Zukunftsfahige_Alltagsokonomie_in_Wien_am_Beispiel_Atzgersdorf  

[5] https://www.europarl.europa.eu/thinktank/en/document/IPOL_STU(2021)695491 

[6] https://wirtschaft-ist-care.org/english/ 


Autor: Sven-David Pfau, Wirtschaftsuniversität Wien 

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