Der Diskurs über die Deindustrialisierung Deutschlands und Europas ist in letzter Zeit wieder aufgekommen. Energieknappheit und steigende Energiekosten sind für viele Industrieunternehmen ein Problem. Wir haben im Jahr 2022 eine Konkurswelle erlebt. Darüber hinaus hat die Regierung der USA den Inflation Reduction Act verabschiedet, der gigantische Subventionen für Unternehmen umfasst, die grüne Technologien entwickeln, und die technologische Souveränität der USA sichert (insgesamt 369 Mrd. Dollar). Europäische Unternehmen befürchten, ihre Produktion in die USA oder nach Asien verlagern zu müssen, um Energie- oder Arbeitskosten zu sparen. Sind Industriearbeitsplätze in Europa in Gefahr?
Die Angst vor Deindustrialisierung zeigt, dass Europa die Industrie als Quelle seines wirtschaftlichen Erfolgs und Wohlstands anerkannt hat. Das war nicht immer so. In den 1990er und teilweise Anfang der 2000er Jahre galt der Dienstleistungssektor weithin als vielversprechender in Bezug auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze und Innovation. Wir leben in einer wissensbasierten Wirtschaft, und es wurde angenommen, dass Wissen zum Wachstum innovativer Dienstleistungen führt, während Industriearbeitsplätze mit repetitiven Aufgaben und zunehmender Automatisierung in Verbindung gebracht wurden. In der Zwischenzeit haben Studien herausgefunden, dass Innovation oft an der Schnittstelle zwischen Produktion und Dienstleistungen stattfindet. Darüber hinaus ist ein florierender Dienstleistungssektor oft ein Begleiter und Helfer der Industrie, sei es der inländischen oder der ausländischen.
In dieser Blütezeit der Globalisierung – in den 1990er und frühen 2000er Jahren – befürchteten einige Akteure jedoch eine Deindustrialisierung Deutschlands oder Europas. Die traditionellen europäischen Industrieunternehmen verlagerten ihre Produktionsstätten entweder nach Asien oder nach Osteuropa und gefährdeten damit die klassischen Industriearbeitsplätze, die relativ gut entlohnt und von den Gewerkschaften geschützt wurden. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Deindustrialisierung nicht stattfand, weder damals noch später. Die Industrieunternehmen behielten wichtige Arbeitsplätze in Europa, und die Tatsache, dass sie ihre Produktionsstätten im Ausland hatten, ermöglichte es ihnen, Kosten zu senken, was zu ihrem Erfolg beitrug. Klassische deutsche oder europäische Industrieunternehmen wie die BASF, die vor kurzem angekündigt hat, einen Teil ihrer Produktion aufgrund der Energiekrise auszulagern, wurden zu multinationalen, globalisierten Unternehmen.
Findet heutzutage eine Deindustrialisierung statt? Die aktuelle Energiekrise muss ernst genommen werden, ebenso wie der zunehmende technologische Wettbewerb zwischen den USA und China und seine Folgen. Die EU will in diesem Prozess nicht nur Zuschauer sein, sondern investiert massiv in ihre wirtschaftliche Erholung und die Aufrechterhaltung der industriellen Produktion. Zu diesem Zweck muss sie sich in ihrer Wirtschaftsverfassung neu erfinden. Der Wettbewerb sollte im Mittelpunkt der EU-Architektur stehen, nicht eine marktverzerrende Industriepolitik. Angesichts der aktuellen Herausforderungen scheint jedoch die wirtschaftliche Effizienz weniger wichtig zu sein als das technologische und industrielle Überleben. Wir wissen nicht, welche Folgen diese Prozesse für den EU-Arbeitsmarkt haben werden, insbesondere für den Industriearbeitsmarkt. Es ist jedoch ein wichtiger Moment für Arbeitnehmerrechtsaktivisten, ihre Stimme zu erheben und ihre Vision in den politischen Prozess sowohl in der EU als auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten einzubringen.
Autorin: Dr. Ewa Dabrowska, weltgewandt e.V., Berlin
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