Der Globale Norden wurde nicht aufgrund seines Einfallsreichtums oder Anstrengung reich, sondern wurde vielmehr durch die Arbeit und Ressourcen des Südens entwickelt.
Aufgewachsen in Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde, habe ich gelernt, dass der wirtschaftliche Erfolg Mitteleuropas irgendwie komplett selbst generiert sei. Das lag nicht daran, dass mir die Existenz armutsbetroffener Orte im Globalen Süden gleichgültig war, aber ich lernte, diese Bedingungen vollständig von dem Reichtum zu betrachten, den ich im Globalen Norden sehen konnte. Das ist kein Zufall. Es ist das Ergebnis einer mächtigen eurozentrischen Weltanschauung, die wir in Schulen, Medien, Politik und besonders in der wirtschaftlichen Bildung lernen. Es handelt sich um einen tief verwurzelten kollektiven Glauben, der eine wohlhabende Position in dieser ungleichen Welt rechtfertigt und die gewalttätige neokoloniale Realität einer „imperialen Produktions- und Lebensweise“ auf Kosten anderer verbirgt [1].
Ein Schlüsselkonzept, das mich fasziniert und mit dieser Geschichte kollidiert, ist der Begriff des ungleichen Tausches, ein von mehreren Ökonomen entwickelter Begriff, der Mainstream-Ideen von “Entwicklung” kritisch entgegensteht [2]. Ungleicher Austausch bedeutet, dass eine der beiden am (globalen) Austausch beteiligten Parteien viele reale Güter/Arbeitsstunden/Ressourcen zahlen muss, um den gleichen Preis für ein anderes Gut zu erhalten, in das viel weniger Arbeit/Ressourcen/… stecken. In anderen Worten: Ich tausche 5 Arbeitsstunden gegen 1, aber zum gleichen Geldwert (weil meine Arbeit am Markt weniger Wert ist). Dies liegt daran, dass der Marktwert Ihres Gutes (oder Ihrer Arbeitszeit) weit niedriger ist als sein tatsächlicher Wert. Wie ist das möglich? Ist das einfach natürlich? Wenn man glaubt, dass der Marktpreis auch den Wert von etwas widerspiegelt und dass jeder Austausch freiwillig geschieht (wie ich es in der Mainstream-Ökonomie gelernt habe), kann man mit einer solchen Idee nichts anfangen.
Theorien des ungleichen Tausches behaupten dagegen, dass Marktpreise nicht den Wert widerspiegeln, sondern Ergebnisse ungleicher Machtverhältnisse und unfairer Handelsstrukturen sind, die sich über Jahrhunderte entwickelt haben. Wenn man auf dem globalen Markt in einer weniger machtvollen Position ist, beispielsweise weil es an Kapital fehlt und Sie arbeitsintensive Güter und unverarbeitete Rohstoffe anbieten müssen, die wiederum mit anderen Orten in offenem Wettbewerb stehen (ohne globale Mindestlöhne), können die Preise sozusagen künstlich abgewertet werden. Und selbst wenn verarbeitete Produkte (wie ein T-Shirt) mittlerweile vollständig im Süden hergestellt werden, fließt nur ein Bruchteil des endgültigen Marktpreises an die produzierenden Menschen, während der Großteil vom Norden abgefangen wird. (Wer sich für die Details dieser Prozesse interessiert: hier erklärt John Smith den Vorgang für drei globale Waren: iPhones, Kaffee und T-Shirts [3]). Ungleicher Austausch ist wie ein versteckter Werttransfer, der sich dann im Ergebnis in einem hohen BIP (pro Kopf) als vermeintliche „Produktivität“ zeigt; das was der Globale Norden “geleistet” hat pro Person. Wow! Wenn man das BIP mit dem Blick auf ungleichen Tausch betrachtet, könnten wir es statt als Indikator für den selbst geschaffenen „Mehrwert“ viel mehr als Maß für erfolgreiche „Werteaneignung“ sehen [3].
So viel zur Theorie, es gibt dabei viele weitere Komplexitäten, was ungleichen Tausch möglich macht, auf die wir hier nicht eingehen. Ich wollte gern wissen, was sind die Zahlen? Was ist das Ausmaß des Wertetransfers im ungleichen Tausch? Was ich finden konnte: Auch wenn der Kolonialismus formal beendet wurde, hat sich das neokoloniale Muster des Abfluss von Ressourcen in den Norden eindeutig fortgesetzt. Eine kürzlich durchgeführte Studie hat das Ausmaß der durch ungleichen Tausch angeeigneten Rohstoffe, Flächen, Energie und Arbeitszeit durch den Globalen Norden geschätzt (also sozusagen “Netto”, berücksichtigt, was der Norden dem Süden zur Verfügung gestellt hat) [4]. Allein im Jahr 2015 haben Länder im Globalen Norden folgende Unsummen abgeschöpft und angeeignet…
- 12 Milliarden Tonnen Rohstoffe (9-mal der jährliche Rohstoffverbrauch Deutschlands)
- 822 Millionen Hektar Landfläche (23-mal die Fläche Deutschlands)
- 21 Exajoule Energie (fast doppelter jährlicher Primärenergieverbrauch Deutschlands)
- 188 Millionen Personenjahre Arbeitszeit (mehr als zwei Lebensjahre, von allen in Deutschland lebenden Menschen)
Es handelt sich bei allen 4 Ressourcen um sogenannte “verkörperte” Ressourcen, was bedeutet, dass z.B. die Landfläche nicht als solche in den gehandelten Gütern und Dienstleistungen sichtbar ist, sondern sozusagen im Endprodukt enthalten und für deren Produktion absolut notwendig war. Stellen Sie sich vor, Sie könnten die Menge an Land und Arbeit nicht sehen, die notwendig war, um ein iPhone zu produzieren. All diese Faktoren zusammen sind 10,8 Billionen Dollar wert, das ist mehr als zweimal das gesamte BIP Deutschlands (zu den Preisen des Globalen Nordens)! Die Autor*innen betonen: Diese Summe würde reichen, um extreme Armut ganze 70-mal zu beenden, und ist die 30-fache Summe der offiziellen „Entwicklungshilfe“, die in entgegengesetzte Richtung in den Süden fließt. Man muss sich vorstellen, dass das nur die Zahlen für ein einziges Jahr sind und dass all diese Zeit, Flächen, Energie und Rohstoffe nicht mehr verfügbar sind, um notwendige Infrastrukturen für Menschen im Globalen Süden für die eigene selbstbestimmte „Entwicklung“ bereitzustellen.
Angesichts dieser tatsächlichen Flussrichtung von Ressourcen und Arbeitskraft in den Norden durch sogenannte “Entwicklungsländer” könnten wir sagen, dass Länder wie Deutschland die eigentlichen “Entwicklungsländer” sind – sie erhalten nämlich seit Jahrzehnten erhebliche zusätzliche Entwicklungshilfe aus dem Süden durch ungleichen Tausch. Aber diese Geschichte klingt ganz anders als die selbstbewusste Erzählung vom wirtschaftlichen Erfolg aus eigener Kraft und deutet auf die unbequeme Schlussfolgerung hin, dass wir eine radikale Veränderung der globalen Wirtschaftsstrukturen brauchen, um die Bedürfnisse aller Menschen auf dem Planeten zu erfüllen.
[1] Das Konzept “Imperiale Lebensweise” erklärt https://www.youtube.com/watch?v=c4c5e_hmsWM
[2] z.B. Arghiri Emmanuel, Samir Amin, Raúl Prebisch unter anderen. Ein Überblick gibt Wikipedia https://en.wikipedia.org/wiki/Unequal_exchange und der Unequal Exchange Podcast zum Erbe von Arghiri Emmanuel https://www.youtube.com/@UnequalExchange.
[3] John Smith (2012): The GDP Illusion – Value Added vs Value Capture. Monthly Review, Volume 64 (3). https://monthlyreview.org/2012/07/01/the-gdp-illusion/
[4] Jason Hickel, Christian Dorninger, Hanspeter Wieland, Intan Suwandi (2022): Imperialist appropriation in the world economy: Drain from the global South through unequal exchange, 1990–2015, Global Environmental Change, Volume 73. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S095937802200005X
Bildquelle: Christine Roy auf Unsplash
Autor: Sven-David Pfau, Wirtschaftsuniversität Wien
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