Die grünen Versprechen der Digitalisierung kritisch betrachtet.
Ich führe gerade eine Diskussion mit einer Freundin, und um zu zeigen, dass ich klug bin, verwende ich das komplizierte Wort „dialektisch“. Nach einer Nachfrage, was ich damit meine, merke ich, dass ich den Begriff eigentlich gar nicht erklären kann, und wende mich an die beliebte künstliche Intelligenz ChatGPT um Hilfe. Doch was erwartet mich dort? „ChatGPT ist derzeit ausgelastet (…) wir benachrichtigen Sie, wenn wir zurück sind.“
Was? Das klingt für mich wie eine digitale Version eines Türschilds in einem Tante Emma Laden, auf dem steht: „Vorübergehend geschlossen, bin gleich wieder da.“ Kapazitätsgrenzen im Internet – eine Irritation, die mich nachdenklich macht. Erstens, zeigt es mir, wie schnell wir uns an ein Gefühl der unendlichen und sofortigen Verfügbarkeit gewöhnen, besonders im digitalen Raum. Zweitens wird für mich daran auch deutlich, dass wir uns an eine Geschichte der Grenzenlosigkeit gewöhnt haben, wovon die neueste Version sagt, dass die Digitalisierung uns ermöglichen wird, alle ökologischen Grenzen des Wirtschaftswachstums zu überwinden. Ich bin skeptisch und frage mich, welche realen ökologischen Auswirkungen die Digitalisierung eigentlich hat und wie sie sich zu den Grenzen des Wachstums verhält, denen wir gegenüberstehen. Glücklicherweise hat sich eine wissenschaftliche Arbeitsgruppe zum Thema „Digitalisierung und Nachhaltigkeit“ der Aufgabe bereits angenommen, diese Beziehung systematischer zu betrachten [1]. In einem Papier fragen sie, wie sich die zunehmende Verbreitung von Informationstechnologie (ICT) in der Wirtschaft auf den Energieverbrauch auf makroökonomischer Ebene auswirkt [2]. Der Energieverbrauch ist deshalb so interessant, weil er einer der wichtigsten Triebkräfte für ökologische Probleme ist. Wie sich der Energieverbrauch durch Digitalisierung verändert hängt ihnen zu folge von der Stärke von vier verschiedenen Konsequenzen der Digitalisierung ab (Abbildung): Zwei Effekte können den Energieverbrauch verringern (grün), während zwei ihn erhöhen (rot).
1.) Ein grüner Faktor der Digitalisierung ist die potentielle Steigerung der Energieeffizienz: Denken Sie an reduzierten Autoverkehr durch Videokonferenzen, energieeffizientere Produktionsprozesse oder intelligente Logistik, die Transportenergie spart. Dieser Effekt ist ziemlich einfach nachvollziehbar und in Diskussionen um nachhaltige Digitalisierung omnipräsent.
2.) Ein weiteres grünes Potenzial ist der mit der Digitalisierung einhergehende Strukturwandel: Stellen Sie sich vor, mehr wirtschaftliche Aktivitäten, Produkte und Arbeitsplätze verlagern sich durch die Digitalisierung von industriellen Sektoren zu Dienstleistungssektoren. Dienstleistungssektoren sind im Allgemeinen weniger energieintensiv, was zu einem geringeren Energieverbrauch führen könnte. Wir hören auch viel über diesen Effekt der Digitalisierung, doch das ist nicht das ganze Bild.
3.) Die direkten Effekte der Digitalisierung beziehen sich auf die gesamte Energie, die benötigt wird, um Server zu betreiben und zu kühlen, Algorithmen zu trainieren, Servergebäude zu nutzen, Daten zu übertragen, Mitarbeiter einzusetzen usw. Die digitale Welt benötigt eine reale und materielle und energieintensive Infrastruktur, Orte und Menschen, die daran arbeiten.
4.) Neben diesen greifbaren Effekten der Digitalisierung gibt es auch einen indirekten: Wirtschaftswachstum durch Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Für viele ist das auch genau das Ziel der Digitalisierung, aber das Problem ist, dass Wachstum eng mit steigendem Energieverbrauch verbunden bleibt und somit die Digitalisierung auch steigenden Energieverbrauch anstoßen kann.
Ob die Digitalisierung uns am Ende dabei hilft, Energie zu sparen, ist nicht so einfach zu sagen, denn uns fehlen genaue Daten für alle vier Aspekte, und es ist schwer zu messen, welche Effekte tatsächlich der Digitalisierung zuzurechnen sind. Die Autor*innen versuchen dennoch, mit den bestehenden Daten Tendenzen aufzuzeigen, und kommen zu dem Schluss, dass die Digitalisierung bisher den Gesamtenergieverbrauch in der Wirtschaft eher zu erhöhen scheint. Okay, könnten Sie sagen, aber warum sollte es mich interessieren, wenn der Energieverbrauch steigt, wenn wir ja einfach grüne Energiequellen verwenden können? Ist das dann nicht auch nachhaltig? Das Problem ist, dass wir noch sehr weit davon entfernt sind, 100% erneuerbare Energie zu erreichen (im Strom, aber vor allem auch im Wärmebereich), und es wird viel schwieriger, dieses Ziel zu erreichen, wenn der Energieverbrauch gleichzeitig steigt. Aus diesem Grund können wir durchaus in Frage stellen, ob die Digitalisierung die Möglichkeit für grünes Wachstum erhöht. In einer anderen Studie zu Digitalisierung und grünem Wachstum kommen die Autor*innen zu dem Schluss, dass „…die Digitalisierung an sich nicht zu einer ausreichenden absoluten Entkopplung führt, d. h. zu einer ausreichenden Reduzierung von Ressourcen- und Energiebedarf sowie Umweltauswirkungen, um wichtige Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, wie die Begrenzung der globalen Erwärmung auf oder unter 1,5 Grad Celsius“ [3].
Also, was können wir daraus lernen: Die Ausbreitung digitaler Technologien und digitaler Sektoren hat reale ökologische Auswirkungen, die mehr Aufmerksamkeit brauchen. Digitalisierung ist nicht an sich nachhaltig, sondern es hängt von dem politisch-wirtschaftlichen Rahmen ab, den wir ihr in unserer Gesellschaft geben, welche der genannten Effekte gefördert werden. Dies wird das nächste Thema dieser zweiteiligen Blogserie sein, in der wir uns mit dem Konzept der „digitalen Suffizienz“ auseinandersetzen.
Quellen: (last access on 21.02.2023)
[1] www.nachhaltige-digitalisierung.de/
[2] Lange, S.; Pohl, J.; Santarius, T. Digitalization and energy consumption. Does ICT reduce energy demand? Ecological Economics 2020, 176. Available at: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0921800919320622?via%3Dihub
[3] Santarius, T.; Pohl, J.; Lange, S. Digitalization and the Decoupling Debate: Can ICT Help to Reduce Environmental Impacts While the Economy Keeps Growing? Sustainability 2020, 12, 7496. Available at: https://www.mdpi.com/2071-1050/12/18/7496 p. 12.
Autor: Sven-David Pfau, Wirtschaftsuniversität Wien
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